Als du heute zu deinem Sohn hinausgezogen bist, umringten dich die Engel und die Seelen der Gerechten, der Patriarchen und Propheten; dein Ehrengeleite waren die Apostel, und die große Schar der gotttragenden Väter, die auf göttlichen Befehl von allen Enden der Erde wie auf einer Wolke in dieses göttliche und heilige Jerusalem zusammengeführt wurden, hat in göttlicher Begeisterung dir heilige Hymnen gesungen.
Denn du bist die Quelle für den Leib des Herrn, der der Ursprung des Lebens ist. Wie doch die Quelle des Lebens mitten durch den Tod zum Leben hinübergeführt wird! Wie doch die, welche beim Gebären die Schranken der Natur überstieg, sich nun den Gesetzen der Natur beugt und der unbefleckte Leib sich dem Tode unterwirft!
Denn man muss das Sterbliche ablegen, um die Unsterblichkeit anzuziehen (vgl. 1 Kor 15,53), da auch der Herr der Natur sich nicht weigerte, den Tod zu bestehen. Denn er stirbt im Fleische und durch den Tod hebt er den Tod auf; durch seinen Untergang schenkt er Unvergänglichkeit und sein Sterben macht er zur Quelle der Unsterblichkeit. Wie nimmt doch der Schöpfer aller Dinge die heilige Seele, da sie sich von dem Zelte löst, in dem Gott gewohnt hat, mit eigenen Händen auf! Er ehrt, wie das Gesetz es forderte, jene, die von Natur aus seine Magd ist, die er sich aber dank der unauslotbaren Tiefe seiner Menschenfreundlichkeit, wie die Heilsordnung es verlangte, zur Mutter erwählte; denn in Wahrheit wurde er Fleisch und hat die Menschwerdung nicht vorgetäuscht.
Die Heere der Engel schauten zu, wie man annehmen darf, nachdem sie auf dein Ableben bei den Menschen gewartet hatten. 0 herrlicher Abschied, der die Ankunft bei Gott beschert! Mag dies auch allen gottliebenden Dienern gewährt werden — und wir glauben fest daran —, so besteht doch zwischen den Knechten Gottes und seiner Mutter ein unendlicher Unterschied. Wie sollen wir nun dieses an dir gewirkte Geheimnis nennen? Tod? Zwar wird nach den Gesetzen der Natur deine hochheilige und glückliche Seele von deinem hoch seligen und unbefleckten Leib getrennt und der Leib dem Brauche nach dem Grab übergeben, doch verbleibt er nicht im Tode und wird nicht durch die Verwesung zerstört. Denn wie beim Gebären ihre Jungfräulichkeit unverletzt geblieben ist, so ist auch beim Scheiden ihr Leib vor der Verwesung bewahrt und in ein besseres und göttlicheres Zelt verwandelt worden, das nicht vom Tode getroffen wird, sondern in alle Ewigkeit ohne Ende bestehen wird (…)
Deshalb will ich dein heiliges Scheiden nicht Tod nennen, sondern Entschlafung oder Abschied oder im eigentlichen Sinn Heimkehr. Denn du verlässt ja die Bande des Leibes und kehrst zum Besseren heim.
11. Dich haben Engel und Erzengel hinübergeleitet. über deinen Auszug wurden die unreinen Geister in der Luft in Schrecken versetzt. Bei deinem Durchgang wird die Luft gesegnet und der Äther geheiligt. Mit Freuden nimmt der Himmel deine Seele auf. Mit heiligen Hymnen und in großer Feierlichkeit kommen dir die Mächte entgegen und sprechen etwa: »Wer ist sie, die da heraufkommt, weiß gekleidet, leuchtend wie die Morgenröte? Sie ist schön wie der Mond, auserlesen wie die Sonne« (Hld 6,9). Wie bist du aufgeblüht, wie bist du lieblich! Du bist »die Blume des Feldes, wie eine Lilie inmitten der Dornen« (Hld 2,1 f.).»Deshalb haben Jungfrauen dich lieb. Dem Duft deiner Salben wollen wir nacheilen« (Hld 1,2 f.).
Der König hat dich in sein Gemach geführt, wo Gewalten dir als Leibwache dienen, Fürstentümer dich preisen, Throne dich feiern, die Cherubim in Freuden jauchzen, die Seraphim dich tatsächlich verherrlichen, da du von Natur aus und auf Grund der wahren Heilsordnung zur Mutter ihres Herrschers erhoben wurdest. Nicht wie Elija bist du in den Himmel eingegangen, nicht wie Paulus bist du bis in den dritten Himmel entrückt worden, du bist vielmehr bis vor den königlichen Thron deines Sohnes selbst getreten.
Mit eigenen Augen schaust du nun und freust dich und stehst da in großer und unbeschreiblicher Hoheit, für die Engel und alle überweltlichen Mächte eine unsagbare Wonne, für die Patriarchen ein endloser Jubel, für die Gerechten eine unaussprechliche Freude, für die Propheten ein unaufhörliches Frohlocken, ein Segen für den Kosmos, eine Heiligung des Alls, Erquickung für die Ermatteten, Tröstung für die Trauernden, Heilung für die Kranken, ein Hafen für die Gefährdeten, Verzeihung für die Sünder, aufmunternder Zuspruch für die Betrübten, rechte Hilfe für alle Bittenden (…)
12. Ursprung, Maß und Ziel all dieser Gnadenerweise, die jedes Begreifen übersteigen, aber auch ihre Sicherheit und wahre Beständigkeit haben ihren Grund in der Empfängnis ohne Samen, in dem Wohnen Gottes in dir, in der Geburt ohne Verletzung. Daher hast du in Wahrheit verkündet, nicht vom Tode an, sondern schon auf Grund der Empfängnis werdest du selig gepriesen von allen Geschlechtern (vgl. Lk 1,48). Darum hat nicht der Tod Gedächtnis der Entschlafung unserer Herrin der Allheiligen Gottesmutter dich selig gepriesen, sondern du hast den Tod geschmückt, da du die Demütigung durch ihn aufgehoben hast und ihn zur Freude werden ließest. Deshalb wurde dein heiliger und unbefleckter Leib auf solche Weise zu Grabe getragen, dass Engel ihm vorauszogen, ihn umringten und ihm folgten und alles taten, was nach Gebühr zum Dienst an der Mutter ihres Herrschers gehörte, und dass Apostel und die ganze versammelte Kirche (von Jerusalem) mit lauter Stimme Hymnen zur Ehre Gottes sangen. (...)
Die Gemeinschaft der Apostel hat dich, die wahre Bundeslade Gottes des Herrn, auf ihre Schultern gehoben wie einstmals die Priester jene Bundeslade, die ein Vorbild für dich war; sie haben dich ins Grab gelegt und durch das Grab wie durch den Jordan in das wahre Land der Verheißung geleitet, in das himmlische Jerusalem, meine ich, die Mutter aller Gläubigen, dessen Bildner und Schöpfer Gott ist. Deine Seele ist nicht in die Unterwelt hinabgestiegen, aber auch dein Fleisch hat nicht die Verwesung geschaut (vgl. Ps 15,10). Dein unbefleckter und makelloser Leib blieb nicht auf Erden zurück, vielmehr ist in die königlichen Wohnungen des Himmels die Königin, die Herrin und Herrscherin, die Gottesmutter und wahre Gottesgebärerin versetzt worden. Wie hat der Himmel sie empfangen, die weiträumiger ist als die Himmel! (... )
14. Auch wir wollen heute zu dir hineilen, Herrscherin, und ich sage nochmals: Herrscherin, unvermählte Gottesgebärerin. Unsere Seelen wollen wir an die Hoffnung auf dich wie an einen starken und unzerreißbaren Anker ketten; Geist, Seele und Leib, uns selbst mit allem, was wir haben, wollen wir dir anvertrauen und mit Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern dich nach Kräften verherrlichen; dem nach Gebühr vermögen wir es nicht. . . .
Du aber schau gütig auf uns herab, gute Herrin, Gebärerin des guten Herrn. Lenke und leite unsere Geschicke, wohin dem willst; die Wogen unserer bösen Leidenschaften stille und geleite uns in den ruhiger Hafen des göttlichen Willens. Mache uns würdig der künftigen Seligkeit, die darin besteht, dass Gott das WORT, das aus dir Fleisch angenommen hat, uns liebevoll und von Angesicht zu Angesicht anschaut. Amen
*Johannes von Damaskus, 1. Predigt auf die Entschlafung Marias, 9-14; PG 96,713 C-721 B In: Heiser, Lothar, Maria in der Christus-Verkündigung des orthodoxen Kirchenjahres, Sophia, Quellen östlicher Theologie, Bd. 20, Trier 1981, S. 307 ff
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